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Der Jünger Thomas und der Auferstandene

Ansprache bei der Namensgebung des Thomas Hauses Dortmund am 18.01.1992 von Dr. Johannes W. Schneider.

Wenn ein Zweig sich einen Namen gibt, so ist damit gewiss nicht eine Ehrung des Namenspatrons gemeint,der eine solche wohl kaum nötig hätte, und gewiss auch nicht das Bekenntnis zu einem Menschen. Sondern mit der Namengebung möchte verdeutlicht werden, dass das Leben oder Werk des Namenspatrons als ein wichtiger Schritt in der Menschheitsentwicklung gesehen wird, der im Leben dieses Zweiges vergegenwärtigt werden soll. Daher ist es sinnvoll, wenn die Vielfalt der Schritte in der Menschheitsentwicklung auch in der Vielfalt der Namengebung von Zweigen sichtbar wird. Das Dortmunder Haus soll heute nach dem Jünger Thomas, dem "Zweifler", benannt werden. Während Matthäus, Markus und Lukas den Thomas nur bei der Aufzählung der Jünger-Namen erwähnen, schildert Johannes ihn in recht markanter Weise. Als Christus den Jüngern sagt, er werde nach Judäa zum Grab des Lazarus gehen, wo ihm ja Gefangennahme und Tod drohen, ist es Thomas, der die anderen Jünger auffordert: "Ja lasst uns gehen, um mit ihm zu sterben" Joh. 11/16). Für Christus einzustehen, ist dem Thomas also die Grundlage seiner Christus-Erkenntnis.

Während der Abschiedsworte am Gründonnerstag sagt Christus zu den Jüngern: "Ihr kennt den Weg dorthin, wohin ich jetzt gehe" Joh. 14/4). Darauf äußert Thomas, die Jünger wüssten nicht, wohin er geht, wie sollten sie dann den Weg kennen? Christus antwortet: "Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben. Keiner findet den Weg zum Vater außer durch mich". Diese fundamentale aussage des Christus über sich selbst verdanken wir also der Tatsache, dass Thomas einen Satz Christi nicht nur hörend hingenommen hat, sondern dass er an seinem Nicht-Verstehen anstieß, dass er wach wurde dafür, dass der Sinn des Satzes verborgen ist. Die Schilderung des Johannes könnte man nun leicht in der folgenden Weise missverstehen: Christus habe angenommen, die Jünger kennen Weg und Ziel, das sei nun aber durch die Worte des Thomas nicht bestätigt worden, und deshalb habe Christus Weg und Ziel genannt. Es ist jedoch undenkbar, dass durch Thomas das vorhergehende Wort Christi ungültig gemacht werden sollte. Selbstverständlich kennen die Jünger Weg und Ziel, denn sie haben ja mit Christus zusammen gelebt. Thomas aber möchte in sein Bewusstsein heraufheben, was ihm aus dem Leben heraus vertraut ist. Das ist der ganz eigene Weg des Thomas: Christus nicht in der Erhabenheit der Verklärung zu schauen, sondern sich auf das Leben mit Christus einzulassen, verbindlich, mit der eigenen Existenz für die Wahrheit einzustehen und so durch Lebenserfahrung zur Erkenntnis zu kommen. Sein "Zweifel" macht nicht blind, sondern hält das Reifen der Erkenntnis so lange auf, bis der Mensch sich ganz mit ihr verbinden kann. Und Christus weist die Haltung des Zweiflers nicht zurück, er antwortet auch nicht mit einem Gedanken, der überzeugen könnte, sondern er zeigt sich in der Tiefe seines eigenen Wesens. Er wird ganz unmittelbar zu Thomas.
Am Ostermorgen ist Maria Magdalena der erste Mensch, der den Auferstandenen schaut - mit der Kraft ihrer hingebungsvollen Andacht, die errungen wurde, indem Maria Magdalena die an die Welt verlorenen Gefühle wieder in die Menschlichkeit zurückholte. Engel verhüllen ihr zunächst das Erlebnis des Auferstandenen, dann schaut sie ihn in der paradiesischen Welt des Gartens, jedoch ohne ihn sogleich zu erkennen. Erst als er sie bei Namen nennt, als das Ich des Christus das Ich der Maria Magdalena aufruft, erkennt sie den, den sie schaut. Was geschieht in diesem Augenblick? Der Sinnesorganismus des Menschen, der seit dem Sündenfall nur noch die gegenständliche Welt wahrnehmen kann, wird von dem Wesen des Auferstandenen berührt, die übersinnliche Natur des physischen Leibes wird mit ihren Quellkräften wieder verbunden. Die Substanz des Neuen Jerusalem beginnt sich aus dieser Aktivität des Ich im physischen Leib zu bilden, - zwischen Christus und einem Menschen. Das setzt sich am Abend des Ostersonntags fort, als Christus den Jüngern erscheint. Während für Maria Magdalena die Tatsache der Auferstehung entscheidend war, wird nun für die Jünger die Gestalt des Auferstehungsleibes wesentlicher. Christus gibt sich sogleich zu erkennen, indem er den Friedensgruß entbietet und die Wundmale zeigt, die Punkte, von denen aus sich in dem Schmerz der Kreuzigung der Auferstehungsleib gebildet hat.

An diesem Abend war Thomas nicht anwesend. Und er will seinen Glauben nicht auf das Wort der anderen Jünger, sondern nur auf die eigene Erfahrung gründen. Der russische Philosoph Wladimir Solowjew hat diesen oft kritisch vermerkten Zweifel des Thomas als seinen "gewissenhaften Unglauben" bezeichnet. In Fortführung des Thomas-Verständnisses bei Solowjew darf man vielleicht formulieren:
Der zweifelnde Jünger sucht nicht Beweise im üblichen Wortsinn als Voraussetzung seines Glaubens, sondern ersucht einen Stützpunkt in der eigenen Erfahrung, es geht ihm nicht um den Anlass, sondern um die Bestätigung seines Glaubens. Dieser soll "geerdet" werden. Als eine Woche später Christus wieder den Jüngern erscheint, darf Thomas ihn nicht nur schauen, sondern mit seinen Fingern die Wundmale an den Händen berühren und seine Hand in die Seitenwunde Christi legen. Er allein. Das ist erstaunlich, denn Maria Magdalena war ja die Berührung des Auferstehungsleibes versagt worden, ausdrücklich bis zu dem Zeitpunkt, in dem Christus zum göttlichen Vater aufgestiegen ist, womit ja nur der Himmelfahrtstag gemeint sein kann. Und nun fordert Christus den Thomas sogar auf, ihn zu berühren, obwohl doch gar nicht zweifelhaft sein kann, dass Thomas wie die anderen Jünger den Auferstandenen an dem Friedensgruß erkannt hat, dass er also das Erlebnis der anderen Jünger vom Ostersonntag Abend "nachgeholt" hat. Und es ist auch undenkbar, dass Christus mit seiner Aufforderung nur dem Eigensinn des Thomas entgegenkommen wollte, der die Berührung des Auferstehungsleibes als die Bestätigung seines Glaubens bezeichnet hatte. Es geht hier doch um Tieferes, um eine neuartige Erfahrung des Auferstehungsleibes über das Ostersonntagserlebnis hinaus. Die andächtige Maria Magdalena durfte die Gestalt des Auferstandenen in ihr Auge aufnehmen, der sorgfältig prüfende Thomas darf die Erfahrung des Auges mit der Erfahrung der Hand verbinden. Er darf das Sehen, das dem Menschen die klarsten Konturen der Welt gibt, mit dem Tasten, das dem Menschen die größte Gewissheit im Erdenleben gibt, zusammenschließen. Die Kraft des Auferstandenen beginnt, nicht nur in das einzelne Sinnesgebiet einzuströmen, sondern zwischen den Sinnesgebieten zu wirken. Die Verknüpfung von Eindrücken mehrerer Sinnes- gebiete vollzieht sich im Menschen an jedem Morgen, durch sie erwacht er für die Welt. Indem Thomas die Wundmale, die er sieht, auch berührt, wird die Wahrnehmung des Auferstandenen erst in das volle Erdenbewusstsein aufgenommen. Thomas kommt durch den Tastsinn zur intimsten Erfahrung des Auferstehungsleibes. Es wird ein Denken vorbereitet, das ein Erfassen der Wirklichkeit mit den Händen ist. Dieses beginnt, wo das göttliche Wesen an der Erde gelitten hat, an den Wundmalen. Indem Thomas das Sehen mit dem Ertasten des Auferstehungsleibes verbindet, wird mit dem physischen Menschenleib allmählich auch die Erde in die Auferstehungs-Sphäre einbezogen. Findet dieses einzigartige Oster-Erlebnis des Jüngers seinen Niederschlag in dem (apokryphen) Thomas-Evangelium? Ja, vielleicht am deutlichsten in dem Satz: Jesus sagte: "Wenn das Fleisch wegen des Geistes entstanden ist, ist es ein Wunder" (Log 29). Der erste Teil des Satzes korrespondieren offenkundig mit dem Prolog des Johannes-Evangeliums, in dem von der Mensch-Werdung des Logos gesprochen wird. Der Satz in seiner Gesamtheit klingt wieder auf am Schluss von Rudolf Steiners Vortrag vom 22. Nov. 1919 (in Die Sendung Michaels, GA 194): "Die Fleisch-Werdung des Wortes ist die erste Michael-Offenbarung, die Geist-Werdung des Fleisches muss die zweite Michael-Offenbarung sein".

In ihr geht es nicht um denjenigen Geist, der unserer Erde Gestalt gegeben hat, sondern um denjenigen Geist, der in der selbstvergessenen Hingabe an die Erde eine neue Welt aufbaut. Eine Weisheit, die unter Menschen aus der Besinnung - auf das Wesen DES MENSCHEN - entsteht. Für den Quell dieser Weisheit, für die Geist-Werdung des Fleisches in Christi Auferstehung, ist Thomas besonders hellhörig.
"Selig sind, die meine Kraft im Herzen finden, auch wenn ihr Auge mich nicht sieht" Qoh 20,29), sagt Christus zu Thomas, als er ihn berührt. Selig ist Thomas (noch) nicht, aber er nimmt auf seinem Weg zu Christus den gewissenhaft zweifelnden Menschen mit. Auch dieser will von Christus durchdrungen werden. Das Christus~Erlebnis des Thomas hat dem Menschen der Gegenwart wohl viel zu sagen. Und vielleicht liegt es uns im Ruhrgebiet besonders nahe, diesen Schritt der Menschheitsentwicklung durch die Namengebung des Dortmunder Hauses zu vergegenwärtigen.

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Dr. Johannes W. Schneider †
Dr. Johannes W. Schneider †